Warum "leiden" im Kontext Autismus schwierig ist

Dieser Ausdruck ist nicht neutral. Er sagt, dass die Behinderung aus der Neurodivergenz selbst nachteilig ist. Natürlich hat man durch eine Autismus-Spektrum-Störung auch Schwächen, aber die hat auch jeder Neurotypische. Durch den Begriff "leiden" wird jede Stärke, die das autistisch sein mit sich bringt, einfach weggelassen. Als gäbe es sie nicht. Autismus ist nichts woran man leidet, es ist eine Art zu sein, eine bunte Mischung aus Defiziten und Stärken. Also so wie jeder neurotypische Mensch auch, nur eben nicht ganz nach der Norm. Und von wem kommen diese Normen, wie man zu sein hat? Von der Gesellschaft.

Autisten leiden nicht an ihrer Neurodivergenz, sondern an der Menschheit. An unserer Gesellschaft, die alles ablehnt, was nicht ihrer Norm entspricht. Auch die Komorbiditäten, die mit einer Autismus-Spektrum-Störung vorkommen, sind ein Produkt unserer Gesellschaft. Beispielsweise die Angststörung oder Depression einer autistischen Person kommt davon, dass die Menschen aus dem Umfeld nicht mit dem Autismus umgehen können. Sie verstehen es nicht, wollen es nicht verstehen oder sprechen dir sogar deine Diagnose ab. Leider gibt es auch genug Fachleute, die immer wieder an den Autismusdiagnosen dieser Welt zweifeln. Das ist kein Zweifel an einem Wort in einem Arztbericht, sondern ein Zweifel an uns als neurodivergente Menschen. Autisten leiden an dem Unverständnis ihrer Umwelt, an dem Mobbing, weil sie anders sind, an dem permanenten Kampf um ihren Platz in dieser Welt.

Viele Autisten haben auch das "Wrong-Planet-Syndrom". Das heißt, sie fühlen sich, als wären sie auf dem falschen Planeten. Ich selbst habe das schon als Kind gesagt, als ich noch gar nicht wusste, dass ich autistisch bin. Kurzum brauchen wir mehr Akzeptanz und Verständnis für Neurodivergenz. Bevor du also irgendetwas einfach behauptest oder halbwahres sagst, wo du dich nicht auskennst, frag einen Autisten. Wir beantworten gerne Fragen zu unserem Sein, aber das über uns Reden geht meistens nicht gut aus. Redet mit uns, dann können wir gemeinsam Klischees und Unwahrheiten aufklären.

Auch der Satz "Oh das tut mir leid", wenn man erzählt, dass man autistisch ist, ist problematisch. Wieso tut es dir denn leid dass ich ein anders funktionierendes Gehirn habe? Für mich ist es normal, ich kenne es nicht anders. Soll ich mich dafür schämen, autistisch zu sein? Autismus ist nichts was ich habe, ich bin es. Ich entschuldige mich nicht für mein Wesen und es ist nichts was dir leid tun muss. Neurodivergenz ist nichts, was man verstecken muss, zumindest wäre eine Welt, wo das auch geht, wünschenswert.

Unangebrachte Sätze und Klischees

1. Autisten sind Computerfreaks und gut in Mathe

Nein absolut nicht, natürlich mag es den ein oder anderen geben wo das so ist aber das ist kein direktes Merkmal. Manche Autisten haben das sogenannte Savantsyndrom, was bedeutet, dass sie auf einem bestimmten Gebiet extreme Experten sind aber auch unter Autisten sind Savants selten. Was dagegen die meisten Autisten haben, ist ein Spezialinteresse. Das ist meist ein extremes Beschäftigen mit ungewöhnlichen Themen oder Teilbereichen wie zum Bespiel Züge, Autokennzeichen oder Flaggen.

2. Autisten haben keine Gefühle

Dieses Klischee ist ebenfalls falsch. Autisten haben sehr wohl Gefühle, wir sind ja schließlich Menschen. Allerdings haben wir oft Probleme zu erkennen was wir oder andere fühlen und drücken dieses Gefühl dann nur mäßig oder gar nicht aus. Aber nur weil man ein Gefühl nicht einordnen kann, heißt es nicht dass sie nicht da sind.

3. Autisten wollen nur alleine sein

Das stimmt so nicht ganz. Autisten sind oft gern allein, weil die Reize um sie herum dann minimiert sind und soziale Interaktion anstrengend ist. Allerdings ist unsere soziale Batterie schneller leer als die von neurotypischen Menschen und so brauchen wir meist schneller eine Pause und mehr Zeit zur Erholung zum Beispiel nach einer Geburtstagsfeier. Dennoch haben wir auch gern mal Gesellschaft, meist lieber in kleinen Gruppen und dosiert aber auch ein Autist geht mal zu einem Rockkonzert oder einem Fußballspiel. Bei größeren Events spielt die Vorhersehbarkeit und Vorbereitung eine große Rolle, dass man darauf eingestellt ist neue Menschen zu treffen oder dass es laut wird. Spontanität sollte man bei Autisten eher vermeiden.

4. "Sind wir nicht alle ein bisschen autistisch?"

Auf keinen Fall, das ist eher eine Beleidigung. Nur weil man ein oder zwei Merkmale aufweist, und das tun viele, ist man nicht gleich Autist. Außerdem setzt dieser Satz die täglichen Anstrengungen eines Autisten herab und impliziert, dass man sich nicht so anstellen soll, was ein absolut unangebrachter Satz ist wenn man eben nicht so wahrnimmt wie ein autistisches Gehirn.

5. Autisten sind sozial inkompetent

Auch das ist nicht richtig. Autisten tun sich in sozialer Interaktion oft schwer, besonders bei nonverbaler Kommunikation. Sie haben andere Voraussetzungen dass sie gut kommunizieren können aber mit den richtigen Tipps ist Kommunikation mit Autisten alles andere als Inkompetenz. (Siehe auch die Rubrik "Kommunikation")

6. "Du hast dann aber eine milde Form davon oder?"

Das ist Blödsinn. Entweder man ist autistisch oder nicht. Und egal welche Stärken und Schwierigkeiten man damit hat, sie sind da und kosten Kraft. Von einer milden Form zu reden ist abwertend und einfach nicht nachvollziehbar wenn neurotypische Menschen sich einbilden, sie hätten vollen Durchblick nur weil sie mal eine Freundin hatten, dessen Cousins Schwager ein autistisches Kind hat. Man kann stattdessen lieber fragen welche Stärken und Schwierigkeiten die Person denn so hat. Außerdem maskieren Autisten viel und ein Außenstehender bekommt oft nur das mit, was ihn der Autist auch mitbekommen lässt. Natürlich nur soweit es die Energie zulässt, denn maskieren, sich an neurotypische Menschen anpassen soweit irgend möglich, kostet viel Kraft, weil man ständig über seine eigenen Grenzen geht und seine autistischen Bedürfnisse nicht beachtet.

7. "Das gibt es doch nur bei Kindern"

Nein. Autismus ist eine Entwicklungsstörung und lebenslang. Autistische Kinder werden zwangsläufig zu autistischen Erwachsenen. Sie können den Autismus oft nur besser verstecken und haben schon viele Strategien für ihren Alltag entwickelt um nicht zu sehr aufzufallen, wodurch der Anschein geweckt wird, nicht mehr autistisch zu sein.

8. "Was ist deine Inselbegabung?"

Fast jeder der diese Frage stellt, hat den Film Rainman gesehen. Allerdings ist das Problem daran, dass solche Darstellungen ein völlig falsches Bild von Autismus entstehen lassen. Es gibt schon Autisten mit Inselbegabungen, beziehungsweise dem sogenannten Savantsyndrom, aber das ist unter Autisten auch nicht allzu häufig. Es nervt eher, nur danach gefragt zu werden und auf ein einzelnes Detail des Autismus reduziert zu werden.

9. "Ist doch nur ein Trend"

Auch das ist falsch. Autismus gab es schon immer, nur ist diese Entwicklungsstörung inzwischen wesentlich besser erforscht. So können Autisten besser diagnostiziert werden und es scheint, als wären es plötzlich viel mehr. Es ist aber lediglich die Versorgung besser geworden, zum Glück für alle aus dem Spektrum.